Vom Auftauchen und Verschwinden

Werke und Zahlen – Genie und Schöpfertum in einer Welt von Rationalität und Chronologie

Unter KomponistInnen gibt es einen kleinen Aberglauben, nicht mehr als neun Symphonien zu schreiben, da die zehnte nicht mehr vollendet würde. Das ist ein recht junger Aberglaube, denn die Anzahl der Symphonien der beiden Haydn (Bruder und Bruder) und der beiden Mozart (Vater und Sohn) reicht in diesen Fällen von 41 bis 107. Was also ist innerhalb einer Generation (von Haydn zu Beethoven) geschehen, dass die Opuszahl so zurückgeht? Die Opuszahl Haydns beispielsweise beläuft sich auf über 1000, die von Schumann auf 148. Dazu müssen wir sagen, dass die große Opuszahl sehr oft einerseits vorbürgerlichen Verhältnissen geschuldet ist, andererseits erst in bürgerlichen Vorstellungen wahrgenommen wird.

Solange Musik an den Hof und die Kirche gebunden war, gab es auch kein Eigentum der Komponisten an ihren Werken. Sie waren aber in ihren Dienstverträgen verpflichtet, zu gewünschten Anlässen die entsprechende musikalische Untermalung zu liefern. Das war dann schlicht Unterhaltungs- oder Hintergrundmusik, der auch nicht besonders aufmerksam gelauscht wurde – es sei denn vom heutigen Publikum im Konzertsaal wie zum Beispiel bei Händels Feuerwerk- oder Wassermusik oder Johan Helmich Romans Drottningholmsmusiken (eines schwedischen Komponisten – 1694 bis 1758 – aus der Generation vor Mozart, die Musik wurde anlässlich der Verlobungsfeierlichkeiten des Kronprinzen Adolf Fredrik mit Lovisa Ulrika von Preußen geschaffen und im Schloss Drottningholm in verschiedenen Sälen aufgeführt).

Wenn auch heute die Meisterschaft dieser Werke und ihrer Komponisten gelobt wird, so war sie doch im schlechtesten heutigen Sinn des Wortes Gelegenheitsmusik, die nach der Gelegenheit oft in den Archiven verschwand, keinesfalls aber vom Komponisten verwertet werden konnte. Dasselbe gilt auch für Opern, die oft als Huldigung des Fürstenhauses geschrieben wurden (noch W. A. Mozart mit seinem La Clemenza di Tito – und das zu einer Zeit, als Die Zauberflöte schon im bürgerlichen Unterhaltungstheater Schikaneders aufgeführt wurde), und für ein Gutteil der Kammermusik: Barytonsonaten Haydns für den adligen Virtuosen Nikolaus Eszterhazy (175 Werke, der Baryton ist ein Instrument aus der Gambenfamilie, die Musik dafür wird heute in der Regel auf dem Violoncello gespielt) und die Traversflötenkonzerte des Johann Joachim Quantz (ungefähr 300, dazu 200 Flötensonaten) für Friedrich den Großen. Mit Messen (bei den katholischen Mozart und Haydn) und Kantaten (beim protestantischen Bach) verhält es sich genauso. Unabhängig von der musikalischen Qualität, auf die die kirchlichen und weltlichen Fürsten aus Gründen des Prunks und der Repräsentation großen Wert legten, ist die Musik für einen bestimmten Anlass, im Fall Bachs Sonntag für Sonntag, geschaffen worden und wird dann nicht mehr aufgeführt.

Das erklärt auch, dass Komponisten bei sich abschrieben, das heißt schon fertige Musik für neue Texte verwendeten. Völlig anders aber zeigt sich die Situation, wenn Komponisten für Verlage oder Konzertgesellschaften arbeiten. Nicht mehr die Masse der Produktion wird ausschlaggebend, sondern die Originalität. Vielschreiber wird zur despektierlichen Bezeichnung, die nahelegt, dass die große Produktion zu Lasten der Qualität geht. Der Verleger legt größten Wert darauf, Neues dem Publikum verkaufen zu können. Die Unterscheidbarkeit der einzelnen Stücke tritt nun als ökonomisches Merkmal neben den guten Namen des Komponisten. So war es für die Komponisten nur logisch, wenn sie über ihre Werke Buch führten. Beethoven war einer der ersten, der einen eigenen Werkekatalog anlegte. Haydn hatte dies vor ihm wenigstens teilweise begonnen, indem er einen Teil seiner Werke mit Opuszahlen versehen hatte, aber sein Werkverzeichnis ist heute mit dem Namen des Musikwissenschafters Anthony van Hoboken (1887 bis1983) verbunden. Dasselbe gilt für die Werkverzeichnisse von Mozart und Johann Josef Fux (1660 bis 1741), die von Ludwig von Köchel (1800 bis 1877) herausgegeben wurden.

Am Beispiel von Fux oder auch Vivaldi (Werkverzeichnis von Peter Ryom, geb. 1937) kann eins leicht das historische Interesse erkennen; der historische Blick mit seinem Augenmerk auf chronologische Ordnung ist ein Merkmal bürgerlicher Gesellschaft, das auch in der Musik selbst angewandt wird. Spätere als die bekannten klassischen und heutige Komponisten legen selbstverständlich ihre eigenen Verzeichnisse an; Anton Bruckner beispielsweise benannte die Symphonie in d-Moll, die nach seiner ersten geschrieben wurde, als „Nullte“ und „ungiltig“. Das Zählen der Werke im Rahmen biografisch-chronologischer Befassung ist also vertrauter Bestandteil der Beschäftigung mit Musik geworden und schlägt sich noch in der Sammelwut von aficionados nieder, wenn es etwa um Erstpressungen von Schallplatteneinspielungen geht, ob Jazz, Klassik oder Pop.